Eisorgie
Aus Trondheim herauszufinden war einfacher als ich dachte und so erreiche ich Melhus, wo ich noch ein paar Kilometer der E6 folge. In der Illusion, den gestrigen Radweg weiter parallel zur stark befahren E6 nehmen zu können, stehe ich am folgenden Morgen spät auf und unternehme zuerst eine kleine Wartungseinheit am Rad. Aber ich musste ab Mittag auf der verkehrsreichen Europastraße weiter gegen Süden radeln. Landschaftlich war es auch nicht sonderlich spektakulär und so war mir klar, dass das heute nur eine Transitetappe wird. Dafür ist das Wetter nach wie vor traumhaft und ich gönne mir zum Abschluss des Tages eine 6er Packung Eis, die eigenartigerweise genauso viel kostete wie ein einzelnes, was sich die erstaunte Verkäuferin auch nicht erklären kann. Ich setze mich abseits der Straße an einen See, um Erregung öffentlichen Ärgernisses wegen Völlerei zu vermeiden.
Ich breche wieder sehr früh auf und fahre die leichte Steigung ins Dovrefjell. Ein weiterer Vorteil der zeitigen Radlerei (neben des geringeren Verkehrs) ist die Tierwelt, die man in aller Stille gut beobachten kann. So habe ich schon mehrmals Elche gesehen. Nie gelang es mir aber ein vernünftiges Foto von ihnen zu machen, denn man bemerkt sie erst, wenn sie ins Unterholz flüchten. Die Landschaft wird wieder interessanter. Immer wieder faszinieren mich die schnell wechselnden Vegetationszonen, wenn man bergauf fährt. Zuerst dichter Misch- oder Nadelwald, dann immer kleiner und krüppeliger werdende Fjellbirken in einer Moorlandschaft bis hin zur Fjellebene, diese mit Moosen, Flechten und kleinen Sträuchern in verschiedensten Farben durchsetze Steinlandschaft. Und das alles auf relativ wenigen Höhenmetern.
Hauptsache: Dach über dem Kopf
Die Abfahrt nach Dombås will gar nicht enden und ich lege einen Fotostopp ein, um die heißgebremsten Felgen abzukühlen. Zuerst auf einer Nebenstraße, dann im Sausetempo dank Rückenwind geht's die letzten Kilometer auf der E6 durch das mal weite, mal enge Gudbrandsdal. In Nord-Sel biege ich auf eine namenlose Straße nach Vågåmo ein. Ein Schild warnt mich vor 16%iger Steigung. Ich entscheide mich die nördlich des Vågåvatn gelegene Nebenstraße zu nehmen, die teilweise eine Piste ist. Bald ist Lom erreicht, welches besonders wegen der Stabkirche bekannt ist. Stabkirchen zeichnet eine senkrechte Bauweise der Holzbalken aus und sind das architektonische Markenzeichen Norwegens. Sie haben meistens ein respektables Alter für eine Holzkirche und stammen teilweise aus der Zeit der Christianisierung der Wikinger (um 1000-1200 n. Chr.). Die Holzschnitzereien enthalten fast nur heidnische Symbole und Runen, ein Kompromiss, um die sich widersträubende Landbevölkerung vom Christentum zu überzeugen. In Lom selbst waren mir aber zu viele Touristen und so verließ ich den Ort auf dem Sognefjellveien, den ich schon vor fünf Jahren in umgekehrter Richtung passiert habe. Die Sognefjellstraße ist die höchste Passstraße Nordeuropas und führt durch eine winterliche Berglandschaft. Leider wurde das Wetter immer schlechter. Extrem böiger Seitenwind erschwert das Radeln. Vor mir drückt es ein Fahrzeug mit Wohnmobilanhänger fast von der Straße. Dunkle Sturmwolken kommen auf und ich kann mich gerade noch in ein Behinderten-WC retten. Peitschender Regen prasselt auf's Dach und das bleibt auch die nächsten Stunden so. An Zeltaufbauen ist nicht zu denken und ich finde mich damit ab, die Nacht in meinem neuen Zuhause zu verbringen, in dem es aber sehr sauber und geräumig ist. Am nächsten Morgen ist es nicht mehr ganz so stürmig und ich biege in Turtagrø auf eine Privatstraße nach Øvre Årdal ab. Auf den Bergkuppen liegt sogar etwas Neuschnee. Es geht mehrmals hoch und runter, bevor ich kurz vor der kilometerlangen Abfahrt am Bezahlhäuschen vorbeikomme (als Radfahrer aber durchgewunken werde). Diese Landschaft ist wirklich gigantisch, allerdings ist sie von vielen Hochspannungsleitungen durchschnitten. Den Grund dafür sehe ich in Øvre Årdal, wo der halbe Ort aus einem Aluminiumwerk von Norsk Hydro besteht. Billiger Strom (zu 99% aus Wasserkraft!) hat viel energieintensive Schwerindustrie nach Norwegen gelockt und beschert dem Land den höchsten Pro-Kopf-Stromverbrauch der Welt. Fast jedes Haus wird mit Strom geheizt und die Beleuchtung in öffentlichen Gebäuden hat meistens gar keinen Lichtschalter.
Hinter Øvre Årdal geht's an einer Felswand auch gleich wieder 1117 Höhenmeter hoch, nachdem ich soeben etwa selbe Höhe hinabgefahren bin. Das Ganze wird durch heftigen Gegenwind erschwert. Die geschliffenen Spuren der Eiszeitgletscher sind hier im Moadal sehr gut zu sehen, aber das Wetter ist nicht so toll und ich bin froh, auf der E16 wieder abwärts fahren zu können. In Borgund schaue ich mir Norwegens besterhaltene Stabkirche an, denn viele Stabkirchen sind zwar alt, wurden aber immer wieder umgebaut. Von den über 1000 Stabkirchen sind nur 28 erhalten. Bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden sie oft einfach abgerissen um eine neue Kirche zu bauen, ohne ein Bewusstsein für deren Einmaligkeit zu entwickeln. Eine Untersuchung der Jahresringe hat ergeben, dass das Holz zum Kirchenbau der Borgundkirche im Winter 1180/81 gefällt wurde. Im Inneren ist sie winzig und stockdunkel. Ich folge dem Lærdalselva, der gurgelnd durch eine enge Felsschlucht stürzt. Kurz vor Lærdal weitet sich das Tal und Obstanbau beherrscht das Landschaftsbild, eingerahmt von über 1000 m hohen Felsbergen. Kurz hinter dem Lærdalstunnel (mit 24,5 km der längste Straßentunnel der Welt) durchstreife ich das hübsche und gleichnamige Städtchen. Ich fahre die alte Straße Snøvegen (Schneeweg), die nicht ohne Grund so heißt, den vor dem Tunnelbau waren Aurland und Flåm im Winter nur per dreistündiger Fährfahrt erreichbar. Die enge Straße windet sich von 0 auf 1309 m.ü.N. das Horndal hoch. Riesige Eis- und Schneebrocken schwimmen hier oben in den Seen. Immer wieder grüßender Gegenverkehr, ein deutscher Wohnmobilist läd mich sogar zum Kaffe ein. Bei der Abfahrt pausiere ich an einem 640 m über den Aurlandsfjord gelegenen Aussichtssteg. Winzige Kreuzfahrtschiffe kontrastieren die gigantische Bergkulisse. Nach ewiger Serpentinenabfahrt erreiche ich Aurland und dann Flåm.
In Flåm schaue ich mir die gleichnamige Eisenbahn an (eine der steilsten Adhäsionsbahnen der Welt) und treffe auf ein nettes polnisches Radlerduo. Das interessante Gespräch geht über das übliche Wohin&Woher hinaus und ich bin erstaunt, schon so oft auf meiner Reise radtourende Polen gesehen zu haben. Anscheindend ein richtiger Trend in diesem Land. Am Morgen darauf folge ich dem Flåmsdal hinauf nach Myrdal, die letzten Kilometer eine steile Rampe mit faustgroßen Steinen schiebend. Nun folgt der Rallarvegen, eine alter Versorgungsweg der parallelen Bergenbahn, den ich ebenfalls 2003 schon mal gefahren bin. Er ist eine der schönsten Strecken für Radfahrer in Norwegen, nicht zuletzt, weil er größtenteils für motorisierten Verkehr nicht zugänglich ist. Im ersten Abschnitt kamen mir fast im Minutentakt Radfahrer entgegen. Hinter Hallingskeid wurde es aber ruhiger - ein Geheimtipp ist der Rallarvegen aber nicht mehr. Es gab viele steinige Passagen und gut 30 Mal musste ich das Rad durch Schneeverwehungen schieben. Bei schönstem Sonnenwetter erreiche ich am Abend noch Finse (1222 m.ü.N.) und habe einen fantastischen Blick auf die baumlose Hochebene und den Gletscher Hardangerjøkulen.
Peng!
In Haugastøl treffe ich wieder auf geteerten Untergrund und fahre durch die offene Landschaft der Hardangervidda. Plötzlich öffnet sich eine 150 m tiefe Schlucht und in Norwegen gehören immer ein paar Wasserfälle dazu. Am beeindruckensten stürzt der Vøringsfossen in Tiefe. Jetzt verliert auch die Straße kräftig an Höhe, um im Örtchen Eidfjord wieder Meeresniveau zu erreichen. Irgendwann macht es peng und mir kommt das Geräusch verdächtig bekannt vor. Eine Hinterradspeiche (natürlich auf Kassettenseite) ist gebrochen, aber ich habe noch Übung vom letzten Jahr und die Sache ist schnell repariert. Es sollte die einzige Panne bleiben. Nun geht es immer den Eid- und Sørfjord entlang, schön aber nicht übermäßig spektakulär. Am ganzen Fjord werden Kirschen angebaut und am Straßenrand mit Selbstbedienung verkauft. Odda ist die letzte größere Stadt vor Kristiansand und ich nehme die Gelegenheit zum Einkaufen wahr. In einem Supermarkt finde ich interessante, fast leere Flaschen mit Geschmacksessenzen (u.a. Ouzo und Kirsch-Cognac) , die mit Alkohol aufgefüllt werden müssen (den man sich woanders „besorgen“ muss). Der Zucker- und Hefeabsatz soll auch ganz prächtig sein. Das verkrampfte Verhältnis der Norweger zum Alkohol spiegelt sich in zwei Volksentscheiden wieder, als man 1916 für ein totales Alkoholverbot und 1927 für die Aufhebung desselben stimmte. In vielen Gemeinden darf ab 18 Uhr und an Sonn- Feier- und Wahltagen kein Bier verkauft werden. Getränke mit mehr als 4,8 Vol.% unterliegen staatlicher Kontrolle und werden nur in Geschäften mit der treffenden Bezeichnung Vinmonopolet verkauft. Seit Schweden in der EU ist, sind die Preise dort für Alkoholika gesunken und es gibt einen regelrechten Alkoholtourismus zum Nachbarn, der auch liebevoll „süßer Bruder“ genannt wird.
Hinter Odda ist für einen kurzen Abschnitt der Gletscher Buarbreen zu sehen und links und rechts der Straße gibt es immer wieder prächtige Wasserfälle. In Skarsmo finde ich mit etwas Glück die alte Straße zur E134. Es ist immer wieder interessant zu sehen, wie sich die Natur die ehemaligen Hauptstraßen zurückholt. Pflanzen brechen durch den Asphalt, Steinschlag bearbeitet die Oberfläche, Erdrutsche reißen ganze Abschnitte in die Tiefe. Als Radfahrer kommt man aber in der Regel immer irgendwie durch und umgeht den Verkehr oder einen Tunnel. Der knapp 5 km lange Røldaltunnel ist zwar für Radfahrer nicht verboten, ich aber fahre trotzdem die alte Passstraße und bereue es nicht. Kurz vor Røldal kommt nochmal ein sehr kurzer Tunnel, der ohne Alternative verboten ist und so fahre ich gezwungenermaßen trotzdem durch. Es geht auf und ab über das Haukelifjell und bald darauf kommt der Abzweig zum Riksvegen 9 nach Kristiansand. Noch ein letztes Mal darf ich in den Genuss einer Serpentinensteigung kommen, bevor die Straße der Otra folgt. Ich passiere Hovden, einen wichtigen Ort der Wikingerzeit und der Eisenherstellung, den man heute mit Wintersportburgen würdigt. Vorbei an netten Seen und Wäldern spüre ich den Drang, schnell nach Hause zu fahren und habe das entsprechende Tempo drauf. Ich beschließe doch noch eine Übernachtung vor Kristiansands Toren einzulegen und mit der 7:15-Uhr-Fähre am nächsten Morgen zu fahren. Kristiansand wäre wohl bei jedem Stadtplanerwettbewerb von Beginn an disqualifiziert, kann aber immerhin mit den meisten Sonnenstunden Norwegens punkten. Ich verzichte auf eine ausgedehnte Stadtbesichtigung und beeile mich, ein Ticket für die Katamaranfähre zu bekommen. Mit Ausnahme des Stahlmantels ist dieses Ungetüm komplett aus Aluminium gefertigt. Nach Verlassen der vorgelagerten Schäreninsel gibt der Kapitän Vollgas und aus den vier Turbinen kommt ein gewaltiger Wasserstrahl und trägt uns in nur zwei Stunden über den Skagerrak nach Hanstholm in Dänemark.
Meine Tour ist eigentlich damit beendet und ursprünglich hatte ich vor, vom nächstgelegenen Bahnhof die Heimreise anzutreten, andererseits böte sich bei flotter Fahrt an Dänemarks Westküste eine nette Dreitagestour nach Hamburg an. So fahre ich westwärts und werde auch gleich mit Gegenwind beglückt. Vorbei geht's an zahlreichen Bunkeranlagen, einen Teil des Atlantikwalls. Nochmal eine kurze Fährpassage nach Thyborøn und ich kann mich windgeschützt hinter einem Deich verbergen. Zuvor bin ich wegen des starken Seitenwindes fast zum Stillstand gekommen. Wenn man vorne und hinten mit Gepäcktaschen unterwegs ist, kann Seitenwind sehr unangenehm sein, weil man - der größeren Angriffsfläche wegen - regelrecht ausgebremst wird. Bis auf wenige Abschnitte ist vom Meer nicht viel zu sehen. Wild zu kampieren ist auf Jütland nicht so einfach, man muss sich gut verstecken. Ribe ist ein Städchen, dass mir gut gefiel, aber Touristenmassen quetschten sich durch die engen Gassen. Ich folge immer der Küstenlinie, betrachte Sylt aus der Ferne und erreiche den deutsch-dänischen Grenzdeich bei Klanxbüll. Gegen Abend wird es regnerisch und ich kann mich nicht so recht entscheiden, ob ich mit dem letzten Zug nach Hamburg fahren soll. Letztendlich genieße ich in Niebüll eine Riesen-Currywurst mit Bier aus der norddeutschen Stadt, die bei Autofahrern so einen schlechten Ruf hat und muss mich erstmal daran gewöhnen, für dieses bescheidene Vergnügen nicht Omas Sparbuch plündern zu müssen. Das einzige uneinsichtige Plätzchen zum Zelten finde ich in einer Traktorspur im Maisfeld, darauf achtend, keine Pflanze zu knicken falls mich doch der Bauer erwischen sollte. Am folgenden Tag radel ich noch etwas die Küste bis Husum entlang, um dann ziemlich direkt durch Schleswig-Holstein nach Hamburg zu gelangen. Bei Quickborn endete meine Karte und ich musste frei nach Himmelrichtung durch die Akklomeration von Norderstedt und Nord-Hamburg radeln, so dass die letzte Etappe mit 206 km auch die längste der Tour wurde. Halb neun abends, nach 35 Tourtagen, erreiche ich meine Wohnung, nicht ganz im Bewusstsein, dass die Tour nun tatsächlich zuende ist. Mit 4189 ist sie nur geringfügig kürzer als die Nordkaptour im letzten Jahr. Von Kirkenes nach Kristiansand waren es 3640 km, 549 km der Rest nach Hamburg. Im Durchschnitt fuhr ich somit 119,7 km/Tag, 113,8 km/Tag in Norwegen und 183,0 km/Tag von Hanstholm nach Hamburg.
Fazit:
Dies ist immerhin meine vierte Reise nach Norwegen, aber sicherlich nicht die letzte. Dieser rasche Landschaftswechsel, diese dramatischen Lichtspiele, diese faszinierende Nähe von Bergen und Meer lassen es nie langweilig werden. Ich bin ein großer Liebhaber subarktischer und borealer Natur und so mancher kann nicht nachvollziehen, warum es mich regelmäßig ins Nordland statt ins Mediterrane zieht. Über das norwegische Wetter soll man sich nicht beklagen, denn es nützt nichts. Man kann wochenlang tollsten Sonnenschein haben oder in den Berghängen klebende Dauerregenwolken, meistens muss man - wie auch diesmal - einen Mix aus beidem ertragen. Viele fragen mich, ob das Reisen alleine sich nicht aufs Gemüt schlägt. Doch ich sehe darin eigentlich kein Problem, solange man offen und interessiert für Fremdes ist. Außerdem ist es eine organisatorische Frage zu zweit zu reisen und nur schwer auf einen Nenner zu bekommen (Zeit, Interesse, Mentalität, Fitness usw.).
Im Norden fand ich Norwegen wilder, im Süden spektakulärer. Kontakte zur Bevölkerung sind freundlich, aber zurückhaltend (keiner drängt zum Teppichkauf). Ich bin sicherlich etliche Höhenkilometer gefahren; der Norwegenradler sollte den Berg lieben. Man muss schon mal für ein paar Tage Lebensmittel mitschleppen. Wasser habe ich fast immer aus dem Bach getrunken. Trotz ausgiebiger Planung bin ich einige hundert Kilometer mehr gefahren als errechnet. Man sollte die Entfernungen nicht unterschätzen. Diese Tour entspricht in etwa dem Landweg von Hamburg zur iranischen Grenze! Nun bleibt mir noch der Kystriksveien zwischen Bodø und Steinkjer als eine der nächsten Touren in Norwegen. Denn das ist gewiss: Norwegen, ich komme wieder.
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